GÛNTERAS SEGEN
Das
Dröhnen der Trommeln von Derva rief die Zwerge
Tronjheims herbei, um der Krönung ihres
neuen Königs beizuwohnen.
»Gewöhnlich«, hatte Orik Eragon am Vorabend
erklärt, »tritt ein Regent die Herrschaft an, sobald er von der
Clan-Versammlung gewählt wurde. Die Krönung selbst findet aber
frühestens drei Monate später statt. Damit will man den Zwergen
genug Zeit geben, um ihre Angelegenheiten zu ordnen und aus den
entferntesten Winkeln unseres Reiches nach Farthen Dûr zu reisen.
Es kommt nicht oft vor, dass wir einen Monarchen krönen, also
machen wir ein rauschendes Fest daraus, wenn es so weit ist.
Wochenlang wird geschlemmt und gesungen, es gibt die
verschiedensten Spiele, in denen wir unsere Klugheit und Stärke
beweisen, und Wettkämpfe im Schmieden, Meißeln und den anderen
Künsten... Dies sind allerdings keine gewöhnlichen Zeiten.«
Eragon stand neben Saphira direkt vor
Tronjheims zentraler Kammer und lauschte dem Klang der gigantischen
Trommeln. Zu beiden Seiten der mehrere Meilen langen Halle drängten
sich auf jedem Stockwerk Hunderte von Zwergen in den Arkaden und
blickten mit glänzenden dunklen Augen zu Eragon und Saphira
hinab.
Saphira fuhr mit ihrer rauen Zunge über die
Schuppen ihrer Flanke, wie sie es schon die ganze Zeit tat, seit
sie am frühen Morgen fünf ausgewachsene Schafe verschlungen hatte.
Dann hob sie das linke Vorderbein und rieb das Maul daran. Außerdem
hing an ihr der Geruch von verbrannter Wolle.
Hör auf, so
herumzuzappeln, sagte Eragon. Die Leute schauen schon.
Ein leises Knurren drang aus Saphiras
Brust. Ich kann nicht anders. Mir hängt
Wolle zwischen den Zähnen, mir klebt Wolle auf der Zunge. Jetzt
weiß ich wieder, warum ich keine Schafe mag. Diese haarigen Biester
hinterlassen Flusen im Maul und verursachen
Verdauungsstörungen.
Ich helfe dir beim
Putzen deiner Zähne, wenn wir hier fertig sind. Bis dahin reiß dich
bitte zusammen.
Ja, ja.
Hat dir Bloëdhgarm
Feuerkraut in die Satteltaschen gepackt? Das würde deinen Magen
beruhigen.
Ich weiß
nicht.
Hm. Eragon
überlegte einen Moment. Falls nicht,
frage ich Orik, ob sie es in Tronjheim vorrätig haben. Wir sollten
-
Er verstummte, als der letzte Trommelschlag
verklang. Die Zuschauermenge erwachte aus ihrer Erstarrung und er
hörte Kleiderrascheln und hier und dort ein paar leise Worte in der
Zwergensprache.
Dutzende Trompeten schmetterten eine Fanfare
und erfüllten den Stadtberg mit ihrem schallenden Klang, dann
begann irgendwo ein Zwergenchor zu singen. Die Musik ließ Eragons
Kopfhaut kribbeln und sein Blut schneller fließen, als ginge er auf
die Jagd. Saphira schlug mit dem Schwanz, und er wusste, dass sie
genauso empfand wie er.
Es geht
los, dachte er.
Seite an Seite traten er und Saphira in die
zentrale Kammer des Stadtbergs und nahmen ihren Platz zwischen den
Clan-Oberhäuptern, Gildemeistern und anderen Persönlichkeiten von
Rang ein, die einen Kreis in dem hohen, weitläufigen Raum gebildet
hatten. In der Mitte stand der Sternsaphir, umgeben von einem
hölzernen Gerüst. Eine Stunde vor der Krönung hatte Skeg Eragon und
Saphira die Nachricht überbringen lassen, dass er und seine
Handwerker die letzten Bruchstücke des riesigen Edelsteins
zusammengefügt hätten und Isidar Mithrim nun bereit sei, von
Saphira wieder zu einem Ganzen gemacht zu werden.
Der schwarze Granitthron der Zwerge war von
seinem angestammten Platz unterhalb Tronjheims heraufgeschafft
worden und stand nun auf einem Podium neben dem Sternsaphir. Er war
zur östlichen der vier Haupthallen Tronjheims ausgerichtet, denn so
wie im Osten der neue Tag anbricht, würde mit dem König ein neues
Zeitalter anbrechen.
Eragon erblickte Tausende von
Zwergenkriegern in polierten Rüstungen. Zwei große Gruppen waren
vor dem Thron postiert, und in Doppelreihen standen sie zu beiden
Seiten der östlichen Haupthalle bis hin zu Tronjheims Osttor in
einer Meile Entfernung. Viele der Krieger hielten Speere, an denen
Banner mit eigentümlichen Mustern hingen. Hvedra, Oriks Gemahlin,
stand in vorderster Reihe der Menge. Nach Grimstborith Vermûnds
Verbannung durch die Clan-Versammlung hatte Orik nach ihr
geschickt, in der Erwartung, die Wahl für sich zu entscheiden. Sie
war erst an diesem Morgen in Tronjheim eingetroffen.
Eine halbe Stunde lang spielten die
Trompeten und der unsichtbare Chor sang, während Orik vom Osttor
Tronjheims zur zentralen Kammer schritt. Sein Bart war frisch
gebürstet und frisiert, und er trug geschnürte Halbstiefel aus
feinstem Leder mit edlen Silbersporen an den Absätzen, dazu eine
graue Wollhose, eine purpurne Seidenbluse, die im Laternenlicht
glänzte, und darüber ein Kettenhemd, dessen Glieder aus reinem
Weißgold geschmiedet waren. Ein langer, mit dem Wappen des
Dûrgrimst Ingietum bestickter Hermelinumhang floss über seine
Schultern und auf den Boden hinter ihm. Volund, der vom ersten
Zwergenkönig Korgan geschmiedete Kriegshammer, hing an einem
breiten rubinbesetzten Gürtel an Oriks Hüfte. In seinem
prachtvollen Gewand und dem schimmernden Kettenhemd schien der
Zwerg von innen heraus zu strahlen. Eragon war fast geblendet von
seinem Anblick.
Zwölf Zwergenkinder folgten Orik, sechs
Jungen und sechs Mädchen, zumindest ließen die Frisuren der Kleinen
darauf schließen. Die Kinder waren in rote, braune und goldene
Wämser gewandet, und ein jedes trug eine sechs Zoll messende,
polierte Kugel in den Händen, die jeweils aus einer anderen
Steinart war.
Als Orik ins Zentrum des Stadtbergs trat,
wurde das Licht in der Kammer trüber und auf allem erschien ein
Muster aus Schattentupfern. Verwirrt blickte Eragon nach oben und
sah mit Erstaunen, dass von Tronjheims Gipfel rosafarbene
Rosenblätter herabschwebten. Sie landeten, weichen, dicken
Schneeflocken gleich, auf den Köpfen und Schultern der Versammelten
und auch auf dem Boden und erfüllten die Luft mit ihrem lieblichen
Duft.
Die Trompeten und der Chor verstummten, als
Orik vor dem Thron auf ein Knie sank und das Haupt neigte. Die
Kinder blieben reglos hinter ihm stehen.
Eragon legte Saphira die Hand an die warme
Flanke und teilte seine Anspannung und Aufregung mit ihr. Er wusste
nicht, was als Nächstes geschehen würde, denn Orik hatte sich
geweigert, ihm zu sagen, wie die Zeremonie ab diesem Punkt
weiterlaufen würde.
Gannel, das Clan-Oberhaupt des Dûrgrimst
Quan, trat aus dem Kreis der Anwesenden und stellte sich rechts
neben den Thron. Der breitschultrige Zwerg trug ein wallendes rotes
Gewand, auf dessen Borten mit metallenen Fäden gestickte Runen
glänzten. In einer Hand hielt Gannel einen langen Stab, auf dessen
oberem Ende ein durchscheinender spitzer Kristall saß.
Mit beiden Händen hob der Zwerg den Stab
über den Kopf und stieß ihn mit einem hallenden Knall auf den
Steinboden. »Hwatum il skilfz Gerdûmn!«, rief er aus. Er fuhr
einige Minuten lang fort, in der Sprache der Zwerge zu reden, und
Eragon lauschte ihm, ohne ihn zu verstehen, da sein Dolmetscher
nicht da war. Dann veränderte sich Gannels Tonfall und Eragon
erkannte Worte in der alten Sprache. Er merkte, dass Gannel einen
Zauber wirkte, der Eragon allerdings gänzlich unbekannt war. Statt
die Beschwörung auf einen Gegenstand oder auf ein Element zu
richten, das sie umgab, beschwor der Priester in der Sprache der
unerklärlichen Macht: »Gûntera, Erschaffer des Himmels, des
Erdreichs und der endlosen Meere, erhöre den Ruf deines treuen
Dieners! Wir danken dir für deine Großmut. Unser Volk blüht und
gedeiht. In diesem wie in jedem Jahr haben wir dir die besten Böcke
unserer Herden geopfert und dazu Schalen voller Würzfleisch und
einen Teil unserer Ernte an Früchten, Gemüse und Weizen. Deine
Tempel sind die prachtvollsten im ganzen Land, und niemand kann
darauf hoffen, sich mit deinem Ruhm zu messen. Oh mächtiger
Gûntera, König aller Götter, höre mein Flehen: Die Zeit ist
gekommen, einen neuen sterblichen Herrscher für unsere irdischen
Angelegenheiten zu ernennen. Bist du bereit, deinen Segen Orik,
Sohn von Thrifks, zu gewähren und ihn in der Tradition seiner
Vorgänger zu krönen?«
Zuerst dachte Eragon, Gannels Bitte würde
unbeantwortet bleiben, denn er fühlte keine Welle der Magie von dem
Zwerg ausgehen, als er geendet hatte. Doch dann stupste Saphira ihn
an und sagte: Schau.
Eragon folgte ihrem Blick und bemerkte in
dreißig Fuß Höhe inmitten der herabschwebenden Rosenblätter eine
Stelle, wo keine Blätter fielen, als ob ihnen dort ein unsichtbarer
Gegenstand im Weg wäre. Das Gebilde weitete sich aus, reichte nun
bis zum Boden, und das von Rosenblättern umrahmte Nichts nahm die
Gestalt eines Wesens mit Armen und Beinen an wie ein Zwerg oder
Mensch oder Elf oder Urgal, aber mit Proportionen, die anders waren
als bei jedem Volk, das Eragon kannte: Der Kopf war fast
schulterbreit, die massigen Arme reichten bis unter die Knie, und
während der Torso gewaltig schien, waren die Beine kurz und
krumm.
Feine, klare Strahlen wässrigen Lichts
entströmten den Umrissen, dann entstand das verschwommene Abbild
eines riesigen männlichen Wesens mit struppigem Haarschopf. Der
Gott, wenn er einer war, trug nichts außer einem Lendenschurz. Sein
Gesicht war finster und würdevoll und wirkte gleichermaßen grausam
und gütig, als könnte er zwischen diesen beiden Extremen ohne
Vorwarnung hin und her wechseln.
Während er all diese Einzelheiten bemerkte,
nahm Eragon außerdem die Gegenwart eines fremdartigen,
allumfassenden Bewusstseins wahr, eines Bewusstseins von
unergründlicher Tiefe, das aufblitzte und donnerte und in
unerwartete Richtungen wogte wie ein sommerlicher Gewittersturm.
Seine Haut kribbelte, ein Kälteschauer lief ihm über den Rücken. Er
wusste nicht, was er da gespürt hatte, aber Angst packte ihn und er
blickte Hilfe suchend zu Saphira. Sie starrte auf die riesige
Erscheinung vor ihr, ein ungewöhnlich intensives Funkeln in den
Augen.
Wie auf ein lautloses Kommando sanken die
Zwerge auf die Knie.
Der Gott erhob seine Stimme und sie klang
wie herabrollende Felsbrocken, wie der peitschende Wind über kahlen
Berggipfeln und wie heranbrandende Wellen an einem steinigen Ufer.
Er sprach in der Zwergensprache, und obwohl Eragon ihn nicht
verstand, erschauderte er unter der Wortgewalt des Gottes. Dreimal
stellte er Orik eine Frage und dreimal antwortete der Zwerg mit
vergleichsweise leiser, dünner Stimme. Offenbar zufrieden mit den
Antworten, streckte die Erscheinung die glühenden Arme aus und
legte die Fingerspitzen an Oriks Schläfen.
Die Luft zwischen den Fingern des Gottes
flirrte, und auf Oriks Haupt erschien der edelsteinbesetzte
Goldhelm, den Hrothgar getragen hatte. Dann klopfte sich der Gott
auf den Bauch, lachte dröhnend und löste sich auf. Die Rosenblüten
schwebten nun wieder ungehindert herab.
»Ûn qroth Gûntera!«, rief Gannel aus und die
Trompeten erklangen wieder.
Orik richtete sich auf, stieg auf das
Podium, wandte sich den Versammelten zu und setzte sich auf den
harten schwarzen Granitthron.
»Nal, Grimstnzborith Orik!«, riefen die
Zwerge und schlugen mit den Streitäxten auf ihre Schilde und
stampften mit den Füßen auf den Boden. »Nal, Grimstnzborith Orik!
Nal, Grimstnzborith Orik!«
»Es lebe König Orik!«, rief Eragon.
Saphira krümmte den Hals und erwies dem
neuen König ihre Ehrerbietung mit einem gewaltigen Brüllen und
einem Feuerstrahl, der über die Zwerge hinwegfegte und eine
Schneise in die herabschwebenden Rosenblüten brannte. Eragon
tränten die Augen, als die Hitzewelle über ihn hereinbrach.
Dann kniete Gannel vor Orik nieder und sagte
etwas in der Zwergensprache. Als er fertig war, berührte Orik das
Haupt des Priesters, der sich erhob und an seinen Platz
zurückkehrte. Danach trat Nado vor den Thron und sagte in etwa die
gleichen Worte zu Orik, so wie auch Manndrâth und Hadfala und nach
und nach alle anderen Clan-Oberhäupter, mit Ausnahme von
Grimstborith Vermûnd, der von der Krönung ausgeschlossen war.
Wahrscheinlich haben
sie Orik ihre Treue gelobt, sagte Eragon zu
Saphira.
Haben sie das nicht
schon getan?
Ja, aber nicht in der
Öffentlichkeit. Eragon beobachtete, wie Thordris vor den
Thron trat, und fragte dann: Saphira,
was, glaubst du, haben wir gerade gesehen? Könnte das wirklich
Gûntera gewesen sein oder war es ein Trugbild? Sein Bewusstsein
schien echt zu sein, und ich wüsste nicht, wie man so etwas
vortäuschen könnte, aber...
Es könnte ein Trugbild
gewesen sein, sagte sie. Soweit
ich weiß, haben die Zwergengötter den Knurlan niemals auf dem
Schlachtfeld oder bei anderen Ereignissen geholfen. Auch kann ich
nicht glauben, dass ein Gott auf Gannels Ruf hin herbeigeeilt kommt
wie ein dressiertes Hündchen. Ich würde es jedenfalls nicht tun,
und sollte ein Gott nicht über einem Drachen stehen?...
Andererseits gibt es viel Unerklärliches in Alagaësia. Es ist
möglich, dass wir einen Schatten aus einem längst vergessenen
Zeitalter gesehen haben, ein verblasster Rest, der noch heute über
das Land geistert und seine Rückkehr an die Macht herbeisehnt. Wer
kann das schon so genau wissen?
Nachdem das letzte Clan-Oberhaupt vor Orik
getreten war, folgten die Gildemeister. Danach gab Orik Eragon ein
Zeichen. Gemessenen Schrittes trat der Drachenreiter zwischen den
Zwergenkriegern hervor, bis er den Thron erreichte, niederkniete
und als Mitglied des Dûrgrimst Ingietum Orik als seinen König
anerkannte und schwor, ihm zu dienen und ihn zu schützen. In seiner
Funktion als Nasuadas Gesandter gratulierte er Orik im Namen der
Varden und ihrer Anführerin und versprach ihm die Freundschaft der
Rebellen.
Als Eragon sich zurückzog, kamen andere, um
zu Orik zu sprechen, eine scheinbar endlose Folge von Zwergen, die
dem neuen König ihre Treue versichern wollten.
So ging es stundenlang weiter, bis das
Überreichen der Geschenke begann. Jeder Zwerg bot Orik eine Gabe
seines Clans oder seiner Gilde dar: einen bis zum Rand mit Rubinen
und Diamanten gefüllten Goldkelch, einen Harnisch aus magisch
verstärktem Metall, das von keiner Klinge durchdrungen werden
konnte, einen zwanzig Fuß langen Wandbehang, der aus den Bärten der
Feldûnost-Ziegen gewebt worden war, eine Achat-Tafel mit den Namen
aller Vorfahren Oriks, einen gebogenen Dolch, der aus einem
Drachenzahn gefertigt worden war, und viele andere Schätze. Im
Gegenzug schenkte Orik den Zwergen Ringe als Zeichen seiner
Dankbarkeit.
Ganz zuletzt traten Eragon und Saphira vor
den neuen König. Wieder kniete der Drachenreiter vor dem Thron
nieder und holte nun das goldene Armband hervor, das er am Vorabend
von den Zwergen erbeten hatte. »Das ist mein Geschenk, König Orik.
Ich habe es nicht selbst hergestellt, aber ich habe es mit Zaubern
belegt, die Euch schützen werden. Solange Ihr es tragt, braucht Ihr
Euch nicht vor Gift zu fürchten. Falls ein Attentäter versucht,
Euch zu erschlagen oder zu erstechen oder irgendeinen anderen
Gegenstand nach Euch wirft, wird Euch die Waffe verfehlen. Das
Armband wird Euch sogar vor feindlicher Magie abschirmen. Und es
besitzt noch andere Eigenschaften, die Euch nützlich sein dürften,
wenn Euer Leben in Gefahr ist.«
Orik neigte den Kopf und nahm das Armband
von Eragon entgegen: »Ich weiß dein Geschenk zu schätzen, Eragon
Schattentöter.« So, dass jeder es sehen konnte, streifte Orik sich
das Band über das linke Handgelenk.
Als Nächstes sprach Saphira und übertrug
ihre Gedanken auf alle Anwesenden. Und
das ist mein Geschenk, Orik. Mit klackenden Klauen tappte
sie am Thron vorbei, richtete sich auf und legte die Vorderbeine
auf das Gerüst, das den Sternsaphir umgab. Die massiven Holzbalken
ächzten unter ihrem Gewicht, aber sie trugen es. Minuten
verstrichen, ohne dass etwas geschah. Saphira verharrte dort und
starrte auf den riesigen Edelstein.
Die Zwerge beobachteten sie gebannt, wagten
kaum zu atmen. Bist du dir sicher, dass
du es schaffst?, fragte Eragon, obwohl er ihre
Konzentration nicht stören wollte.
Ich weiß es nicht. Wenn
ich Magie wirke, denke ich nicht darüber nach, was ich tue. So war
es jedenfalls bis jetzt immer. Ich bringe die Welt einfach dazu,
sich zu verändern. Es ist kein bewusster Akt... Ich werde wohl
warten müssen, bis ich spüre, dass der richtige Moment gekommen
ist, um Isidar Mithrim zu heilen.
Ich helfe dir. Lass
mich durch dich einen Zauber wirken.
Nein, Kleiner. Das ist
meine Aufgabe, nicht deine.
Eine einzelne Stimme wehte durch die Kammer,
leise und klar sang sie eine getragene, sehnsüchtige Melodie. Einer
nach dem anderen fielen die Sänger des verborgenen Chors ein und
erfüllten Tronjheim mit der bittersüßen Schönheit ihrer Musik.
Eragon wollte sie schon bitten, ruhig zu sein, aber Saphira
sagte: Schon gut, lass sie
ruhig.
Obwohl er die Worte nicht verstand, erkannte
Eragon am Klang des Liedes, dass es ein Wehklagen darüber war, dass
Dinge, die einst bestanden hatten, nun nicht mehr waren, so wie der
Sternsaphir. Als das Lied seinem Ende entgegenstrebte, dachte er an
sein altes Leben im Palancar-Tal, und Tränen traten ihm in die
Augen.
Zu seiner Überraschung spürte er bei Saphira
eine ganz ähnliche Wehmut. Sowohl Trauer als auch Bedauern waren
ihrem Wesen normalerweise fremd, deshalb wunderte es ihn und er
hätte sie danach gefragt. Gleichzeitig spürte er jedoch, dass sich
tief in ihrem Innern etwas regte: Als würde ein uralter Teil von
ihr zum Leben erwachen.
Das Lied endete auf einem lang gezogenen,
zitternden Ton, und während er verklang, durchflutete Saphira ein
Kraftstrom - so gewaltig, dass Eragon erschrocken aufstöhnte. Sie
beugte sich vor und berührte den Sternsaphir mit der Spitze ihrer
Schnauze. Die zahllosen fein verästelten Risse in dem gigantischen
Edelstein flackerten so hell wie Blitze, dann brach das Holzgerüst
auseinander, fiel zu Boden und offenbarte Isidar Mithrim in seiner
alten Pracht.
Allerdings nicht ganz wie früher. Das Rot
des Edelsteins war kräftiger, intensiver als zuvor und die
innersten Blüten der Rose wurden von schillernden Goldstreifen
durchzogen.
Die Zwerge starrten voll Staunen auf Isidar
Mithrim. Dann sprangen sie auf, jubelten Saphira zu und
applaudierten mit einer solchen Inbrunst, dass es klang wie ein
rauschender Wasserfall. Sie verneigte sich vor der Menge und ging
dann zurück zu Eragon, wobei sie Rosenblätter unter ihren Füßen
zerdrückte. Danke, sagte sie zu
ihm.
Wofür denn?
Dafür, dass du mir
geholfen hast. Es waren deine Gefühle, die mir gezeigt haben, was
ich tun muss. Ohne sie hätte ich vermutlich wochenlang dort
gestanden und auf eine Eingebung gewartet, um Isidar Mithrim zu
heilen.
Orik hob die Arme und brachte die Menge zum
Schweigen. »Im Namen meines Volkes danke ich dir für dein Geschenk,
Saphira. Du hast uns den größten Stolz unseres Reiches
zurückgegeben und das werden wir dir nie vergessen. Niemand soll
behaupten, dass die Knurlan ein undankbares Volk seien. Von heute
an bis zum Ende der Zeit wird man dich bei den Winterfesten in
einem Atemzug mit unseren berühmtesten Meisterkünstlern nennen, und
wenn Isidar Mithrim an seinen Platz in Tronjheims Gipfel
zurückkehrt, wird dein Name in die Fassung eingraviert, die die
Sternrose hält, zusammen mit dem von Dûrok Ornthrond, der das Juwel
einst schuf.«
Zu beiden, Eragon und Saphira, sagte Orik:
»Erneut habt ihr eure Verbundenheit zu meinem Volk demonstriert. Es
erfüllt mich mit Freude, dass ihr mit euren Taten beweist, dass
mein Vater recht daran getan hat, euch in den Dûrgrimst Ingietum
aufzunehmen.«
Nachdem die zahllosen Rituale vollzogen
waren, die der Krönung folgten, und Eragon Saphira geholfen hatte,
die Wollreste zwischen ihren Zähnen loszuwerden - es war eine
schleimige, stinkende Angelegenheit, nach der er erst einmal baden
musste -, nahmen die beiden an dem zu Oriks Ehren stattfindenden
Festbankett teil. Es wurde laut und ausgelassen gefeiert und
dauerte bis spät in die Nacht. Jongleure und Akrobaten unterhielten
die Gäste, ebenso eine Schauspielgruppe, die ein Stück
namens Az Sartosvrenht rak Balmung,
Grimstnzborith rak Kvisagûr zum Besten
gab. Die Sage von König Balmung aus
Kvisagûr, wie Hûndfast Eragon erklärte.
Als die Feierlichkeiten allmählich dem Ende
entgegengingen und die meisten Zwerge bereits tief in ihre Krüge
geblickt hatten, beugte Eragon sich zu Orik hinüber, der am
Kopfende des Steintisches saß, und sagte: »Euer Majestät.«
Orik winkte ab. »Hör auf, mich ständig
mit Euer Majestät anzusprechen,
Eragon. Das will ich nicht. Solange es die Umstände nicht
erfordern, rede mich mit meinem Namen an, so wie du es früher getan
hast. Das ist ein Befehl.« Dabei langte er nach seinem Kelch, griff
aber daneben und hätte ihn beinahe umgestoßen. Er lachte.
Lächelnd fragte Eragon: »Orik, war das
wirklich Gûntera, der dich gekrönt hat?«
Oriks Kinn sank auf die Brust und er drehte
mit ernster Miene den Kelch in seiner Hand. »Es war so nahe an
Gûntera dran, wie wir es in Alagaësia wohl jemals erleben werden.
Beantwortet das deine Frage?«
»Ich... ich glaube schon. Erscheint er
immer, wenn man ihn ruft? Hat er sich jemals geweigert, einen eurer
Herrscher zu krönen?«
Oriks Augenbrauen verengten sich. »Hast du
jemals von den Ketzerischen Königen und Königinnen gehört?«
Eragon schüttelte den Kopf.
»Es waren die Knurlan, denen Gûnteras Segen
verwehrt blieb und die nichtsdestotrotz darauf bestanden haben, den
Thron zu besteigen.« Orik verzog den Mund. »Ihre Herrschaft war
ausnahmslos unglücklich und von kurzer Dauer.«
Eragons Brustkorb verengte sich. »Das heißt,
wenn Gûntera dich nicht gekrönt hätte, wärst du jetzt nicht König,
obwohl die Clan-Versammlung dich gewählt hat?«
»Entweder das oder ich wäre König eines
Volkes, das Krieg gegen sich selbst führt.« Orik zuckte mit dem
Schultern. »Ich habe mir darüber keine großen Sorgen gemacht. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt, da die Varden dabei sind, ins Imperium
einzufallen, würde nur ein Wahnsinniger riskieren, unser Volk zu
spalten, nur um mir den Thron zu verwehren, und Gûntera ist zwar vieles, aber wahnsinnig ist
er nicht.«
»Aber ganz sicher warst du dir nicht?«,
sagte Eragon.
Orik schüttelte den Kopf. »Nicht, bis er mir
den Helm aufgesetzt hat.«